Overtourism.
Jeder Winkel auf dieser Welt ist erkundet, jeder Ort entdeckt, jedes Fleckchen bekannt. Alles ist kartographisch vermessen und eingeordnet, besitzt Koordinaten und ist per Google Earth mit einem Klick für uns sichtbar. Die Grenzen sind für viele Menschen offen und mit einem gültigen Reisepass steht einem nicht mehr viel im Weg. Das Reisen ist eine wunderschöne Art sein Leben zu gestalten, denn es erfüllt einen mit Wahrheiten. Wahrheiten darüber, wie ein Ort wirklich aussieht, wie Menschen wirklich leben, welche Sitten und Gepflogenheiten herrschen und wie gefährlich oder ungefährlich es da draußen tatsächlich ist. Reisen bildet und bringt uns Menschen zusammen. Doch was tun wir eigentlich, wenn nicht nur ein paar Menschen die Welt bereisen wollen, sondern Millionen von Menschen denselben Gedanken hegen?
Dann passiert ein Phänomen, dass man international mit dem Begriff „Overtourism“ getauft hat.
Instagram, Facebook und Co. werden auf der ganzen Welt von Milliarden Menschen genutzt. Wir teilen Bilder, Videos und Meinungen über Outfits, den neuesten Trends, die modischsten Frisuren und schönsten Orte. Über Social Media wird geliebt und gehasst, gemobbt und verteidigt, beleidigt und verehrt, geteilt und geliked. Wie viele andere Themen, hat auch das Reisen unter dem Hashtag #travel eine enorme Bedeutung auf Social Media gefunden. Die schönsten Orte, die geheimsten Ecken, die besten Aufnahmen werden milliardenfach veröffentlicht und gehen wie ein Feuer durch das Netz. Die Daumen und Herzen fliegen im Akkord über die Bildschirme und entfachen ein neues Feuer: den Overtourism. Durch die wunderbare Eigenschaft, dass das Reisen heutzutage einfacher ist als jemals zuvor und sich Billigairlines gegenseitig um den günstigsten Flugpreis regelecht streiten, ist es für immer mehr Menschen durchaus erschwinglich geworden. Kreuzfahrten boomen wie kaum zuvor und Schiffe ziehen durch die ganze Welt ihre Bahnen. Für Städte und Landschaften verheißt dies nichts Gutes. Mit einem einzigen Schiff werden mitunter tausende Urlauber angeschwemmt, die alle zur selben Zeit am selben Ort verweilen. Und es bleibt ja nicht bei einem Kreuzfahrtriesen im Hafen.
Städte, wie Venedig und Dubrovnik, sind im wahrsten Sinne dem Untergang geweiht. Für die Bewohner bedeutet dieser Umstand Verdrängung. Wer möchte schon in Städten leben, die mehr einem Freilichtmuseum gleichen, als einem geliebten zu Hause. Umso schockierter sind wir, dass auch an Orten ohne Kreuzfahrer der Overtourism mittlerweile eine Dimension erreicht hat, die alarmierend und nicht mehr gesund ist.
Besonders an Plätzen die durch Instagram bekannt gemacht wurden ist der Andrang riesengroß. Zu groß, dass die Welt damit überfordert scheint. Immer öfter gibt es Legitimationen, Tickets werden verkauft und für Naturwunder werden horrende Eintrittspreise verlangt. Touren werden angeboten und die Scharen an Menschen werden wie Vieh durch die Szenerien getrieben. Auch wir erleben den Overtourism an vielen Orten auf der Welt und sind immer wieder bestürzt, wie wenig Miteinander und wie viel Gegeneinander herrscht. Jegliche Form der Manier wird vergessen, verdrängt oder ignoriert. Ist der Hype um eine Stätte besonders stark, sind nicht nur spontane Ausflüge unmöglich, sondern es gibt exakte Zeitfenster für alle Besucher. Nicht nur die Ignoranz der Menschen gegenseitig ist das Traurige an diesem Spiel. Vielen geht es primär um ein Instagram taugliches Foto und nicht um die Schönheit vor Ort.
Einige Besucher betrachten die Stätte vor ihren Augen lediglich durch die Linse ihrer Kamera oder auf dem Display ihres Handys. Für den besten Shot, die atemberaubendste Pose und die meisten Follower tun manche Instagram Fanatiker alles. Wirklich alles. Darüber hinaus vergessen sie die Sicherheit ihres eigenen Lebens sowie die Ihrer Mitmenschen. An steilen Abhängen wird abgelichtet, gepost, verrenkt, gesprungen und mitunter abgerutscht und gestorben. Die Massen zerstören wertvolle Naturerben, missachten Grenzen und an Magie ist hier nicht mehr zu denken. Niemals würden wir uns anmaßen das Reisen an sich zu kritisieren. Jeder darf und jeder sollte reisen. Es ist ein Privileg und ein Geschenk, dass uns bildet und unseren Horizont erweitert. Die momentane Verteilung und die vielen Massen an einem Ort betrachten wir jedoch als sehr kritisch. Doch wie verschafft man Abhilfe? Wo fängt man an und wie viel wird zukünftig noch reglementiert? Die wunderschöne Natur leidet. Sie leidet mancher Orts sogar so sehr, dass bestimmte Gebiete für Touristen gesperrt wurden, damit sich die Natur erholen kann, um die Chance aufrecht zu erhalten, sich regenerieren zu können. Bevor sie anschließend wieder den Massen verfügbar gemacht und präsentiert wird. So geschieht es derzeit in Thailand, am berühmten Strandabschnitt „Maya Bay“, bekannt aus dem Hollywood Blockbuster „The Beach“ mit Leonardo DiCaprio. Für Besucher ist dieser auf unbestimmte Zeit geschlossen, damit sich die Korallen und die Unterwasserwelt erholen können. Denn von der einst so üppigen Vielfalt unter Wasser ist nicht mehr viel übrig. Es ist nicht schön an Orten zu sein, wo die Mitmenschen ihre Kamera vor dein Sichtfeld schieben, wo Ellbogenchecks verteilt werden, wo der Genuss und die Freude fehlen. Wir bekommen das Gefühl, dass sich viele Touristen nicht mehr über ihr Reiseziel informieren, sich mit den Ländern und dessen Kultur auseinandersetzen. Die Reisewünsche werden dem Ort mit den meisten Likes vergeben.
Und an diesen Orten werden dann die Fotos, wie nach einer Vorlage nachgestellt. Macht es einer, machen es alle. Auch wir sind fasziniert von vielen Plätzen, auch von stark frequentierten. Aber nehmen wir einmal das Beispiel "Antelope Canyon". Ein berühmter Ort, nicht nur durch Instagram. Er wurde im National Geographic veröffentlicht und damit fing es an, dass der Canyon zur Pilgerstätte wurde.
Jeder möchte ihn sehen, den berühmten Canyon, der durch fließendes Wasser vor Millionen von Jahren geformt wurde. Geformt zu einer einzigartigen Schlucht, die einem Riss in einem Karamellbonbon gleicht. Vor etlichen Jahren schon, ist auch bei uns der Wunsch gereift, diesen besonderen Ort zu erleben. Um das unterschiedliche Farbspiel des Canyons zu erleben, malten wir uns aus, dass wir morgens und abends romantisch hindurch spazieren. Nach einigen Recherchen im Internet mussten wir diesen naiven Gedanken direkt begraben. Im 15 Minuten Takt werden Gruppen durch den schmalen Canyon geschleust, hinab auf steilen Stufen durch enge Schluchten. Insgesamt drei Anbieter führen Touren durch und ca. 400 Personen werden pro Stunde durch die enge Schlucht wie Vieh getrieben. Abseits des Instagram Lebens und tief im Google Dschungel stießen wir jedoch auf eine Alternative - dem „Waterhole Canyon“. Lediglich vier Kilometer trennen beide Naturwunder voneinander. Mit dem Unterschied, dass der eine weltberühmt ist und der andere links liegen gelassen wird. Wir konnten unser Glück kaum fassen, als wir bei unserer gebuchten Tour tatsächlich Exklusivgäste waren. Es gab nur uns und unser Echo. Die ebenso vom Wasser geformten Felsen waren wunderschön, das Licht strahlte in den Canyon hinab und ließ die roten Steine glitzern. Es waren magische Momente die wir zu zweit genossen. Keine Zeitvorgabe, keine Hektik, kein Stress. Wir konnten Fotos machen wie wir wollten, durften uns so viel Zeit nehmen wie wir brauchten und unser Guide freute sich über so viel Glück in unseren Gesichtern. Und nur für den Geschmack, nur für den Vergleich und auch ein bisschen aus Neugier, buchten wir eine Woche vor Anreise ebenfalls eine Tour durch den Antelope Canyon und erhaschten mit viel Glück noch ein Zeitfenster früh morgens um 6:00 Uhr.
Ein eindrucksvoller Canyon ohne Zweifel, aber eine Erfahrung wie diese brauchen wir kein zweites Mal. Vollkommen gestresst, getrieben vom Tourguide (der aber enorm nett war), abgehetzt und ständig verfolgt von der nachrückenden Gruppe, sind wir mit einem halben Herzinfarkt aus dem Canyon wieder rausgeklettert. So viel Menschenmassen in einem so schönen Stück Natur. Und vier Kilometer weiter? Dort existiert ein ähnlicher Canyon und herrscht die absolute Idylle. Weshalb? Weil er noch nicht von irgendeinem berühmten Instagrammer abgelichtet wurde.
Diese Erfahrung lehrt uns, dass wir neben den ausgetrampelten Pfaden auch neue Wege gehen müssen, um noch Verborgenes entdecken zu können. Denn nicht nur wir Menschen verdienen Respekt im Umgang miteinander, besonders die Natur, die uns all die schönen Momente während unserer Reisen beschert gilt es zu schützen und zu behüten.
Wir haben nur diesen einen Planeten!
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