Pressefreiheit.
Es war einmal ein kleiner Junge, der liebte nichts mehr, als sich Fußballspiele anzugucken. Jeden Sonntag fuhr er mit seinem BMX Rad zu seinem Dorfverein und schaute den Erwachsenen beim Kicken zu.
Als er mit seinen Eltern einmal im Auto an einem größeren Stadion vorbeifuhr und dort gerade ein Spiel stattfand, klebte er mit seiner Nase an der Scheibe und winselte wie ein Welpe, sodass seine Eltern umkehrten. Dieser kleine Junge ist mittlerweile 40 Jahre alt und hat sich seine Leidenschaft bis heute bewahrt.
Aus kleinen Dorfplätzen wurden größere Stadien und Arenen, die er in ganz Deutschland besuchte. Irgendwann stieß er an die Grenzen. Allerdings nur an die seines Heimatlandes. Und so erweiterte er seinen Radius. Fußball wird schließlich auf der ganzen Welt gespielt. Er setzt alles daran, in jedem Land das er bereist, mindestens ein Fußballspiel zu sehen. Diese Passion teilen viele Leute und hat sogar einen offiziellen Namen. Groundhopping.
Es verbindet Dinge, wie die Lust am Reisen, der Suche nach kleinen und größeren Abenteuern, den Bezug zu Einheimischen, das Interesse an Stadionarchitektur und Fankultur. In über 30 Ländern hat er bereits Stadien besucht. Nun macht dieser 40 jährige Junge gerade eine längere Weltreise durch viele Länder. Und er versucht mit aller Kraft, das ein oder andere Stadion auf dieser Tour zu kreuzen. Übrigens, dieser kleine Junge von damals, das bin ich: Rouven. Vom Alter her eigentlich erwachsen, aber im Herzen immer noch ein Kind.
In manchen Ländern ist es sehr einfach, um nach einem Spiel zu recherchieren und an Eintrittskarten zu gelangen. Andere Orte machen es einem sehr schwer. Sei es in Israel, wo die Internetpräsenz des Fußballvereins lediglich auf Hebräisch zu lesen ist und ich durch die halbe Altstadt Jerusalems umherirrte, um die Eintrittskarten in einem Hinterzimmer eines dubiosen Kioskbesitzers zu erstehen. Oder in Bolivien, wo sich das Datum des Anpfiffs innerhalb einer Woche 4 x veränderte und ich nach 13 Stunden Busfahrt völlig erschöpft ins höchst gelegenste Nationalstadion der Welt auf 3.637 Metern einmarschierte. Nun stand das nächste Ziel mit Japan an. Nachdem ich in Chicago meinem Weltmeister Helden Bastian Schweinsteiger einen Besuch abgestattet hatte, sollte nun Lukas Podolski in Japan die Ehre erwiesen werden. In Japan war es nicht einfach, um nach Spielansetzungen oder Eintrittskarten zu recherchieren. Ähnlich wie dem Hebräisch in Israel, kann man sich auch mit den Japanischen Schriftzeichen nicht wirklich etwas herleiten und der Google Translator hilft nur bedingt. Ich konnte lediglich in Erfahrung bringen, dass man Mitglied eines Vereins sein muss, um Online an Karten zu gelangen. Schon Wochen vor meiner geplanten Ankunft in Japan schrieb ich deshalb mein Hotel in Tokyo an, ob die Mitarbeiter vielleicht etwas erreichen oder übersetzen können. Die Antwort war allerdings niederschmetternd. Das ausgesuchte Spiel sei bereits restlos ausverkauft. Vielleicht gäbe es noch Restkarten am Spieltag selbst. Doch garantieren kann dafür niemand.
Solche Hiobsbotschaften sind zwar nicht schön, allerdings auch kein Grund, um den Kopf in den Sand zu stecken. Vielmehr erwecken sie den Kampfgeist in mir und wie ein Terrier beiße ich mich an meinem Unterfangen fest und lasse nicht mehr los.
Wochen später, als der Tag des Anpfiffs anbrach, fuhr ich mit gemischten Gefühlen zum Stadion. Immerhin 1,5 Stunden für eine Wegstrecke. Ausgang völlig offen. In dieser Zeit hatten Maj und ich gerade Besuch von Freunden aus Hamburg. Natja und Dominik haben den weiten Weg auf sich genommen, um mit uns durch Japan zu reisen. Ganz stereotyp, wollten die Mädels shoppen gehen, wohingegen die Jungs zum Fußball fuhren. In der Bahn wurden die ersten Trikots gesichtet und die Nervosität stieg weiter an. Eine solche Konstellation hatte ich beim Groundhoppen noch nicht erlebt. Da hatte ich alles korrekt recherchiert. Den Austragungsort kurz vor Tokyo, den Spieltag und auch die Zeit des Anpfiffs. Alles war richtig gewesen und verlief nach Plan. Nur waren wir leider nicht im Besitz von Eintrittskarten. Und anders als bei vielen Ländern würde es in Japan auch keinen Schwarzmarkt geben. Aber selbst wenn, wie sollten wir uns auch verständigen, wo die meisten Japaner kaum Englisch verstehen. Dominik war völlig euphorisch und optimistisch. Als erfahrener Stadiongänger hingegen, hegte ich starke Zweifel und berichtete während der Zugfahrt von anderen Groundhoppern, die sich mit irgendwelchen Geschichten und gefälschten Ausweisen Zutritt in Stadien verschaffen. Als wir mit großem Zeitpolster etwa drei Stunden vor dem Anpfiff am Stadion ankamen, war schon eine Menge los im Umfeld. Überall waren lange Schlangen an den Eingängen zu sehen. Der erstbeste Ordner wurde direkt nach dem Ticket Office ausgefragt. Dieser verbeugte sich kurz, wie es sich für einen Japaner gebührt, um dann mit einer schallenden Ohrfeige zu antworten. Das Spiel sei komplett ausverkauft und es würde auch keine Restkarten mehr im freien Verkauf geben. All die Mühe, all die Hoffnung sollen umsonst gewesen sein?! Einige „Westler“, die bereits in der Warteschlange zum Gästeblock standen, fragten wir nach Tickets aus. Diese zuckten nur mit den Schultern. Wie sind diese Touristen bloß an die Karten gelangt, durchfuhr es mich sichtlich angesäuert.
Dominik verstand die Welt nicht mehr und wollte schon traurig den Rückweg antreten, da geriet ich in einen Tunnelblick. Ich steuerte zielstrebig das kleine Kassenhäuschen an, um letzte Gewissheit zu bekommen, dass es wirklich keine Tickets mehr gibt. Dort stand auf großen Lettern in Englisch geschrieben: SOLD OUT! Vermutlich wären nun 9/10 Menschen enttäuscht von dannen gezogen und hätten sich vielleicht das Spiel in einer Kneipe angeschaut. Ich wollte aber unbedingt ins Stadion! Mit dem Mute der Verzweiflung holte ich meine winzige Kompaktkamera aus meiner Bauchtasche hervor und hielt sie vor das Fenster des Ticketschalters. Immer wieder hörte ich mich die folgenden Worte sprechen: „We are from the German Press! Where do we get the Press Cards?“ Wie ein Mantra klopften diese Worte immer wieder von außen an die Scheibe. Der kleine Japaner, nur schemenhaft hinter dem Glas erkennbar, wuselte herum und holte seinen Supervisor. Der entgegnete ebenfalls mit einem Mantra: „Sorry, sold out! Sorry, sold out!“ „Yes, I know. But we are from the German Press. We need Press Cards!“ entgegnete ich ihm. Dabei deutete ich immer wieder auf meine kleine Kamera. Es sollte vielleicht nicht unerwähnt bleiben, dass ich mir an diesem Tag ein weniger seriöses Gewand übergeworfen hatte. Mit Baseballcap und Pacman T-Shirt in kurzer Hose, tritt man vielleicht nicht als Presseverteter auf. Immerhin veranlasste meine Beharrlichkeit den Supervisor dazu, die nächste Stufe auf der Hirarchieleiter anzufragen. So ging das Stufe für Stufe weiter, bis schließlich der Pressechef des hiesigen Vereins vor mir stand. Ich solle mal mitkommen und ob ich allein arbeiten würde, wurde ich höflich gefragt. Da zeigte ich auf Dominik mit dem Hinweis, dass er mein Assistent sei und mir dringend unter die Arme greifen müsse.
Nun wurden wir beide umringt von echten Offiziellen. Unsere fantasievolle Geschichte hatte uns tatsächlich Türen und Tore geöffnet. Wir mussten uns akkreditieren und ein gelbes Presseleibchen überstreifen. Damit durften wir dann bis an den Spielfeldrand. Die Katakomben des Stadions wurden betreten und die Presseräume und der Ablauf wurden erläutert. Ob es das Adrenalin war, dass mich dazu veranlasste immer mehr wie ein Pressevertreter zu klingen? Ich war selbst verwundert, wie die Sätze aus meinem Mund sprudelten und sich zu einer schlüssigen Geschichte verwoben. Letztlich glaubte ich fast selbst daran. Dominik und ich stärkten uns im Presseraum mit Bananen und liefen dann ganz aufgeregt zum Spielfeld. Während unsere Pressekollegen allesamt riesige Kameraobjektive präsentieren, hielten wir uns krampfhaft an der Minikamera ohne Ersatzakku. Als Randnotiz sei ebenfalls erwähnt, dass mein Assistent Dominik sich nicht zu fein war, den Pressechef nach Stift und Papier zu fragen. Er war schließlich für den Bereich des Schreibens zuständig, allerdings hatte er seine Arbeitsgeräte vergessen.
Als wir vor den Fankurven standen, konnten wir unser Glück kaum fassen. Mehrmals musste ich mich selbst kneifen. Da erblickten wir die beiden „Westler“ im Gästeblock wieder. Diese staunten völlig ungläubig, was wir mit Presseleibchen auf der Tartanbahn zu suchen hatten. Kurz vor Anpfiff gingen wir unserem Job nach und machten fleißig Bilder von der Trainerbank und den einlaufenden Spielern. Wir feierten gemeinsam mit den Ultras in den Kurven und machten Selfies. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte man uns eigentlich entlarven müssen. Aber wir dokumentierten ja auch die Japanische Fankultur. Unsere Geschichte war wasserdicht und so durften wir auch in der zweiten Halbzeit das Geschehen aus nächster Nähe verfolgen. Kurz vor dem Spielende positionierten wir uns vor dem Auswärtsblock, da die Mannschaft von Vissel Kōbe mit 2:1 führte und bei einem Sieg vermutlich in die Kurve zum Feiern kommen würde. Und genau so kam es dann auch. Angeführt vom Weltmeister Andrés Iniesta kamen alle Spieler an uns vorbei und wir holten die letzten Reserven aus unserer Kamera raus. Dominik hielt noch ein Interview mit dem Ex-Hamburger Gōtoku Sakai, bevor wir uns auf dem Weg zur Pressekonferenz machten. Der Pressechef verabschiedete uns noch persönlich und warf zum Glück keinen Blick auf unsere Notizen. Wie bei einer Matheklausur hätten wir ihm nämlich nur ein leeres Blatt Papier präsentieren können. Einziger Wermutstropfen an diesem Tag war, dass sich Lukas Podolski verletzt hatte und daheim in Kōbe geblieben ist. Er hätte uns bestimmt ein „Daumenhoch“ zu diesem unbegreiflichen Tag gegeben.
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